Mein Buch »Der Tote auf der Bank«
An der Rur
Hannelore war schon eine Viertelstunde unterwegs. Sie war mit ihren Gedanken noch beim zurückliegenden Wochenende und freute sich im Nachhinein noch über den Besuch ihrer Kinder und Enkelkinder.
Sie war gerne alleine, hier an der Rur.
So früh am Morgen ist hier meist wenig Betrieb. Manchmal traf sie auf einen Hundefreund, der ebenfalls ihre Mission teilte, den Hund zu belüften.
Das Laub auf dem Ruruferweg war nass und modrig. Es roch ein wenig nach Fäulnis. Ihr war dieser Geruch keinesfalls unangenehm. Das gehörte doch dazu. Zuerst saftig grün, dann vertrocknet und dörr. Immerhin noch Heimat und Zuhause für viele Kleinstlebewesen. Und zum Schluss matschig und modrig. Jede Zeit hat ihren besonderen Reiz.
Sie musste ein wenig lächeln ob ihrer wissenschaftlich fundierten geistigen Studien betreffend Laub in den verschiedenen Jahreszeiten.
“Immer noch besser, als wenn man achtlos mit verschlossenen Augen durchs Leben geht”, dachte Hannelore.
Es war recht frisch heute Morgen. Kein Wunder! Ende Januar rechnete man ja nicht mit T-Shirt-Wetter.
Klar und frisch, das war die richtige Witterung. Dann machten auch ein paar Minusgrade Mensch und Tier nichts aus.
Nass und feucht war unangenehm.
Selbstverständlich bekam das klare kühle Wetter auch ihrem geliebten Herkules besser.
Ihm machte nur das Streusalz schwer zu schaffen. Die kleinen Pfötchen litten unter der nassen Salzlösung. Hier an der Rur wurde allerdings kein Salz gestreut. Diesen Weg gingen H und H natürlich auf eigene Gefahr.
Schon von weitem konnte sie die Person sehen, die in zusammengesackter Haltung auf der Bank am Rurufer saß, ganz in der Nähe der Kirmesbrücke.
Eigenartig sah dieser Mensch aus, fast wie eine Puppe. Zuerst meinte sie, es hätte sich jemand einen Scherz erlaubt und den über alles geliebten Lazarus Strohmanus dorthin platziert.
In ganz Jülich gibt es aber wohl niemanden, der sich das trauen würde. Schließlich ist diese Lazarus-Puppe ein Heiligtum.
Diese Strohpuppe ist die wichtigste Gestalt der historischen Karnevalsgesellschaft gleichen Namens. Schon über 300 Jahre gibt es diese Gesellschaft.
Gerade dieser Lazarus Strohmanus hat in Jülich an Fastelovend wichtige und wichtigste Aufgaben zu erfüllen.
Schon im November jeht dat Spillsche los.
Man findet einen Taufpaten, dann gibt es eine Taufe und allerhand andere Veranstaltungen.
Den Höhepunkt erreicht der Lazarus dann natürlich an Karneval.
Dann wird er von freundlich gestimmten Herren, ja! die Betonung liegt auf Herren oder Männern, also den Wesen mit dem Stück „Mehr“ am Körper, durch die Stadt getragen.
Natürlich hatten Frauen in diesem Verein auch eine Aufgabe!
Sie durften die Herren mit Erbsensuppe versorgen, sie trösten, wenn der Lazarus nicht mehr da war, ja, sie durften den Gatten helfen, den Männerschnupfen auszukurieren (was den Begleiterscheinungen einer Entbindung gleichkam), die sie sich natürlich bei der Bützerei an Karneval eingefangen hatten.
Es ist ja nicht so, dass diese Stück-Mehr-Wesen das ungern machen. Im Gegenteil: sie machen es gerne, singen und lachen…und trinken hin und wieder auch ein Tröpfchen oder zwei.
Dennoch darf man nicht annehmen, dass es ausgelassen zugeht. Es ist eine mehr als ernste Angelegenheit.
Der Tag des Lazarus Strohmanus ist der Veilchendienstag.
Wenn nun diese „Stück-Mehr-Wesen“ den ganzen Veilchendienstag diese immens wichtige Aufgabe erfüllt haben, heiser sind vom Gesang und den Sprüchen, die sie bei der Jülicher Hautevolee in beeindruckender Weise rausposaunt haben, also, wenn sie die Geschäftsleute und andere Persönlichkeiten der Stadt ausreichend „durch den Kakao“ gezogen haben, wird eben diese Puppe entkleidet und unter großem Gejammer in die Rur geworfen. Es versteht sich, dass dieses Spektakel abends stattfindet.
Wenn dann der Lazarus davon schwimmt (beladen mit allen Sünden der Jülicher, was wiederum bedeutet, dass Tetz und Linnich in den Rurfluten versinken), begleitet ihn ein wunderschönes Feuerwerk, das den Abschluss dieses ereignisreichen Tages bildet.
Hannelore erinnert sich, dass schon mal erzählt wurde, dass eben dieser zum Tode verurteilte Lazarus von mutigen Rittern der historischen Gesellschaft wieder aus dem Wasser gefischt wurde. Man bewahrte ihn dann, schön getrocknet, aber nackt zu Hause auf, fast wie ein Denkmal, einen Schatz.
Hannelore sinniert.
Die Lazaruspuppe kann es eigentlich nicht sein. Karneval ist ja noch nicht vorbei, und wie soll die Puppe hier an die Rur kommen? Bis Veilchendienstag wird sie streng bewacht. Sollte diese Puppe verschwinden, wäre ja die ganze Historie gefährdet.
Hannelore kam der Bank und dem darauf sitzenden „Ding“ näher.
Es war nicht der Lazarus Strohmanus, der dort saß, sondern ein richtiger Mensch.
Ein Schreck durchfährt ihren Körper und augenblicklich friert sie.
Seltsam gekleidet ist er und steif gefroren.
Auch ihr Pinscher erschrickt und kann das nur mit lautem Gekläffe äußern.
„Ruhig Herkules, ruhig. Braver Hund. Alles wird gut"
So richtig kann sie es Herkules nicht vermitteln.
„Hallo sie, ist ihnen nicht kalt? Haalloo.“ Keine Antwort.
Es dauert noch einige Sekunden bis sie begreift, dass dieser Mensch ihr wohl nicht mehr antworten kann. …